Wendie Renard ist eine der bekanntesten Fußballerinnen der Welt. Ihr Rückzug aus Frankreichs Nationalteam löst eine Rücktrittswelle aus. Die Französinnen protestieren gegen die Bedingungen – und reihen sich ein in eine Liste von Spielerinnen, die auf „Equal Play“ nicht länger warten wollen.
„Mein Gesicht mag den Schmerz verdecken, aber das Herz leidet … und ich habe keine Lust mehr zu leiden.“ Die Worte von Wendie Renard erschüttern Ende der vergangenen Woche die Welt des Fußballs der Frauen. Die Kapitänin der französischen Nationalmannschaft tritt nach 142 Länderspielen zurück. Der Defensiv-Ikone folgen wenig später die beiden Stürmerinnen Kadidiatou Diani und Marie-Antoinette Katoto, dann auch noch Perle Morroni nach, die zuletzt vor der EM 2022 für die Equipe gespielt hatte. Es ist ein Schock, der Frankreich nur fünf Monate vor der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland hart trifft. Es ist aber einer, der nicht in Frankreich angefangen hat, sondern sich immer weiter ausbreitet.
Immer mehr Fußballerinnen nehmen die Umstände – oder eher Zustände? – im Profi-Sport nicht länger hin. Frankreich ist die nächste Nation, in der dies offensichtlich wird. Zuletzt lehnten sich die kanadischen Olympiasiegerinnen gegen ihren eigenen Verband auf – ein Streik wurde nach Androhung von Millionenklagen fallengelassen, die Gegenwehr aber ist deutlich. Die US-Frauen bestritten den mühsamen, jahrelangen Rechtsstreit – und konnten im Mai vergangenen Jahres schließlich das im Fußball historische „Equal Pay“ feiern.
Einige der Weltmeisterinnen, etwa Megan Rapinoe und Alex Morgan, sichern Renard nun Unterstützung zu. So auch die erste Ballon-d’Or-Gewinnerin der Geschichte, Ada Hegerberg. Fast fünf Jahre lang hatte sie in der norwegischen Nationalmannschaft pausiert, weil sie das Ungleichgewicht bei den Prämien zwischen Männern und Frauen nicht hinnehmen wollte. Sie schrieb sowohl an den französischen Verband als auch an Renard gerichtet: „Wie lange müssen wir noch so weitermachen, damit wir respektiert werden? Ich bin bei dir, Wendie, und bei allen anderen, die die gleichen Prozesse durchmachen. Es ist Zeit zu handeln.“
„Ich kann nicht mehr so tun, als ob“
Es geht längst nicht nur ums Geld – auch wenn die Diskrepanz bei den Bezahlungen von Männern und Frauen meist immens ist. Das machen auch Renard und Co. deutlich. „Ich liebe Frankreich über alles, ich bin bei Weitem nicht perfekt, aber ich kann das derzeitige System nicht mehr unterstützen, das weit von den Anforderungen entfernt ist, die auf höchstem Niveau verlangt werden“, hatte die 32-Jährige in den sozialen Medien geschrieben. Prämien sind das eine, Trainings- und Spielbedingungen, Ausstattung, Personalstärke, sichtbare Weiterentwicklung und auch Wertschätzung des eigenen Verbands mindestens ebenso gewichtig. Die Kanadierinnen etwa hatten angeprangert, ihr Trainingslager sei verkürzt worden, weniger Personal dürfe dabei sein – und nur 20 Spielerinnen seien vor Ort, was nicht einmal ein Trainingsspiel mit Elf gegen Elf ermöglicht.
Die derzeit verletzte französische Nationalspielerin Griedge Mbock schrieb zu ihrem Solidaritätsbekenntnis zu Renard und Co.: „Es ist an der Zeit, sich wirklich mit der Diskrepanz zu beschäftigen, die zwischen der aktuellen Organisation, den Erwartungen, die man hat, und den Mitteln, die man uns gibt, um auf höchstem Niveau zu kämpfen, besteht.“
Wendie Renard erklärte bei RMC Sport zu ihrem Rückzug, dass sie die zu langsame Entwicklung des Frauenfußballs anprangern wolle. „Ich kann es nicht mehr. Ich kann nicht mehr so tun, als ob. Ich liebe dieses Trikot, und weil ich es liebe, habe ich diese Entscheidung getroffen, die persönlich weh tut“, sagte sie. 2019 fand die Weltmeisterschaft im eigenen Land statt – wie schon 2011 nach der WM in Deutschland verpasste auch Frankreich, den Aufschwung nachhaltig mitzunehmen.
So sieht es auch Renard: „Der Schwung ist abgebrochen“, sagt sie und blickt fast schon neidisch auf andere Nationen. „Wenn du siehst, dass Barcelona sein Stadion mit 90.000 Menschen füllt, dass es in England funktioniert … Du hattest einen Vorsprung vor diesen Ländern …“ Die englischen Europameisterinnen surfen seit dem Titel im eigenen Land auf einer Welle der Euphorie, in Spanien schafft es vor allem das erfolgreichste Team, FC Barcelona, mit Zuschauerrekorden viel Aufmerksamkeit zu generieren. Renard prangert daher an: „Wir müssen einen Gang höher schalten, wenn wir mit der französischen Mannschaft einen Titel gewinnen wollen.“
Gestörtes Verhältnis zur Trainerin
Doch bei Renard schwingt noch etwas anderes mit: das Verhältnis zur Trainerin. Auch das ist für Renard ein Problem. Nichts Neues, dass sie und Nationaltrainerin Corinne Diacre nicht die besten Freundinnen sind – gelinde gesagt. Obwohl sie sich bei der EM im vergangenen Jahr scheinbar zusammengerissen hatten. Sturheit und Autorität wird der Trainerin, die 2014 für viel Aufsehen gesorgt hatte, weil sie mit Clermont Foot ein Zweitliga-Team bei den Männern übernommen hatte, nachgesagt. Nach der Weltmeisterschaft in Frankreich 2019 verkrachten die Kapitänin und die Trainerin sich so arg, dass erst eine vom Verbandspräsidenten organisierte Aussprache dazu führte, dass Renard ihr Amt zurückerhielt.
„Ich wollte diesen letzten Austausch mit der Trainerin haben, bevor ich meine Entscheidung bekannt gebe. Meine Entscheidung stand zu 80 Prozent fest“, verdeutlichte Renard nun bei RMC Sport ihren Rücktritt. „Ich habe immer gesagt, dass sie die Chefin ist, nicht ich. Ich strebe nicht danach, Trainer zu sein, ich strebe nur danach, Leistung zu erbringen und das blaue Trikot dorthin zu bringen, wo es hingehört, nämlich auf das höchste Niveau mit den Spielerinnen und den Qualitäten, die wir haben. Es gibt viele Dinge, die geändert werden müssen, und es ist meine Pflicht, dies zu sagen.“ Laut RMC Sport wird Renard nicht mehr für Frankreich spielen, solange Diacre die Trainerin ist.
„Nationalmannschaft hat viel Besseres verdient“
Die Frau, die wegen ihrer 1,87 Meter Körpergröße und ihrer spielerischen Übersicht auch „Kontrollturm“ genannt wird, ist nicht die Erste, die diese Entscheidung für sich getroffen hat. Unterstützung bekam sie jetzt von der früheren Nationaltorhüterin Sarah Bouhaddi: „Vor drei Jahren habe ich beschlossen, mich aus der französischen Nationalmannschaft zurückzuziehen, um eine für mich psychologisch unhaltbare Situation anzuprangern“, schrieb sie bei Instagram. „Heute gehen meine Teamkolleginnen in die gleiche Richtung und versuchen erneut, etwas zu bewegen. Ich möchte ihren Mut würdigen und ihnen meine volle Unterstützung geben. Die französische Nationalmannschaft hat viel Besseres verdient.“
Auch in dieser Beziehung gibt es international weitere Beispiele: 15 Spanierinnen gaben im September ihre kollektive Pause bekannt, weil sie nicht länger mit Trainer Jorge Vilda arbeiten wollen. Demnach sei die aktuelle Situation unerträglich, die Spielerinnen sehen ihre körperliche und emotionale Gesundheit beeinträchtigt. Grund seien die angeblich mangelnde Qualifikation des 41-Jährigen, die für die Spielerinnen unzureichenden Trainingsabläufe und das frühe Aus bei der Europameisterschaft, berichtete „El Periodico“. „Bis zur Umkehrung“ der Zustände, also der Entbindung des Trainerteams von seinen Aufgaben, würden sie deshalb nicht für Spanien spielen.
Der Verband reagierte empört, stärkte Vilda den Rücken – und so spielen einige der weltbesten Fußballerinnen noch immer nicht wieder für Spaniens Team. Zuletzt fehlten Verteidigerin Mapi Leon und Co. bei der Länderspielphase Mitte des Monats. Kapitänin Jennifer Hermoso, die zwar ihre Solidarität bekundet, aber keine Pause verkündet hatte, war dagegen für die Spiele im Australian Nations Cup gegen Jamaika, Australien und Tschechien nominiert und eingesetzt worden.
Erfolgreichster Klub der Welt hält zu Renard
In Spanien ist in dieser Auseinandersetzung eine deutliche Diskrepanz zwischen den Klubs zu erkennen. Die Spielerinnen des FC Barcelona sind zurückgetreten, von Real Madrid spielen sie weiter. Zumindest ein Klub mischt auch in Frankreich schon mit: das erfolgreichste Frauenteam der Welt, Olympique Lyon. Der Klub, für den Renard spielt, die sich der Unterstützung des Präsidenten und ihrer Trainerin sicher sein kann.
„Corinne Diacre ist seit sechs Jahren dabei, es gab Höhen und Tiefen“, sagte OL-Präsident Jean-Michel Aulas der „L’Equipe“. „Ich habe den Eindruck, dass wir in eine Situation ohne Wiederkehr vorgestoßen sind. Wenn man sich den Kader dieser französischen Mannschaft ansieht, sieht man, dass sie überhaupt nicht mit den anderen großen europäischen Mannschaften vergleichbar ist. Ich weiß, dass wir die besten Spielerinnen Europas, vielleicht der Welt, haben, aber wir können keine Ergebnisse erzielen.“ Er verweist darauf, dass neben der WM im kommenden Jahr auch die Olympischen Spiele in Paris – und damit im eigenen Land – anstehen. Der Verband müsse „die Situation genau ansehen und Entscheidungen treffen. Das scheint mir obligatorisch, wenn man die gesendeten Botschaften respektieren will“. Auch Lyons Trainerin Sonia Bompastor sagte Renard die volle Unterstützung zu. „Wir müssen auf allen Ebenen, sei es im Verband oder im Verein, in der Lage sein, zuzuhören und zu zeigen, dass die Spielerinnen die Möglichkeit haben, sich auszudrücken und Lösungen zu finden.“
Entlässt der Verband Diacre?
Dieser Schock wühlt den Fußball der Frauen in vielen Ländern auf. Die Streitigkeiten sind festgefahren, die Fußballerinnen frustriert, die Verbände scheinen die Belange der Profis häufig zu missachten. In Frankreich könnte Renard allerdings einen Machtwechsel angestoßen haben. An diesem Dienstag tagt der Verband bei seiner Vorstandssitzung. Vorrangig wird über Verbandspräsident Le Graet entschieden, gegen den ein Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs des Mobbings und der sexuellen Belästigung läuft. Er lässt seit Januar sein Amt ruhen, dementierte aber die Anschuldigungen. Die Nachrichtenagentur AFP berichtet jedoch bereits aus Kreisen des Pariser Sportministeriums, dass Le Graet nicht weiter tragbar sei.
Der 81-Jährige gilt als Unterstützer Diacres, die erst nach dem EM-Halbfinal-Aus gegen Deutschland im vergangenen Sommer ihren Vertrag bis 2024 verlängert hatte. Zwar hatte der Verband als Reaktion auf Renard und Co. mitgeteilt, dass „kein Individuum über der Institution französische Nationalmannschaft“ stehe. Wird Le Graet aber gestürzt, scheint auch Diacres Stuhl zu wackeln. Einer möglichen Absetzung könnte Diacre auch zuvorkommen: Der Journalist Mohamed Toubache-Ter twitterte am Montag, dass die 48-Jährige bei der Sitzung ihren Rücktritt erklären wird. Womöglich hat Renard also nur im rechten Moment Alarm geschlagen. Damit werden sicherlich nicht alle Probleme im Nationalteam auf einen Schlag gelöst, aber es wäre ein Erfolg für die langjährige Kapitänin. Ihre Worte jedenfalls sind markerschütternd. Es geht längst nicht nur um den Fußball, es geht um „mentale Gesundheit“ und um ihr „leidendes Herz“.








