Sein Ende als Leichtathlet bestimmt Tim Lobinger selbst. Nach vier Olympia-Teilnahmen verlässt er seinen Sport im Stillen. Ganz anders, als er ihn gelebt hatte: als lauter Exzentriker mit Zopf und schrägen Brillen. Aus dem Leben gerissen wird er nun viel zu früh, nachdem er dem Krebs schon einmal die Stirn geboten hatte.
Wie bereitet man sich auf ein Ziel vor, das man am liebsten gar nicht erreichen möchte? Wie er sich auf den nächsten Wettkampf vorbereiten würde, das hatte Tim Lobinger in seinen vielen Jahren als Stabhochspringer perfektioniert. Jeden Tag, jedes Training und jeden Wettkampf hat der gebürtige Rheinländer in seiner Karriere notiert. Nebeneinandergestellt mehrere Meter Tagebücher hatte er angesammelt.
Nur eins kam nie in der Vorbereitung als professioneller Athlet vor: der härteste Kampf. Der gegen den eigenen Tod. Er ist nicht geglückt. Mit nur 50 Jahren stirbt Lobinger. Seine Familie teilte mit: „Die ehemalige Stabhochsprung-Legende ist im engen Kreise friedlich eingeschlafen, er hat den Kampf nicht verloren, sondern auf seine Weise gewonnen.“ Denn Lobinger konnte noch einige kleine Siege feiern in einem Leben, das schon vor einigen Jahren fast vorbei schien.
Viele Meilensteine gesammelt
Früh nach dem Ende seiner Karriere hatte er sich dem unfreiwilligen Kampf schon einmal stellen müssen. Dem Leben nach dem Leistungssport kam der Krebs dazwischen. Also hatte der Wahl-Münchner ab 2017 erneut gekämpft, nicht mehr um Höhen und Normen, sondern um seine Gesundheit. Der Leukämie die Stirn geboten, dank Chemotherapie, dank Stammzelltransplantation, dank des Zusammenhalts seiner Familie, seiner drei Kinder, seiner zweiten Frau Alina, obwohl die Trennung eigentlich schon vollzogen war. Er hatte den heimtückischen Krebs erfolgreich abgewehrt. Kein Tod, stattdessen wieder Leben, ab 2019 krebszellenfrei und gesundheitlich stabil. Bis er im März 2022 bekannt geben musste, dass der Krebs zurück ist. Und bleiben wird, weil er den Ärzten zufolge keine Chance auf Heilung hat.


Lobingers Kinder Fee und Lex-Tyger – hier im Jahr 2005 – sind inzwischen erwachsen.
(Foto: imago/Mavericks)
Von da an sollte er sich vorbereiten – auf den eigenen Tod. Eben jenes Ziel, das er am liebsten nicht so schnell erreichen wollte, das aber nicht einmal ein Jahr später da ist. Von da an sammelte er Meilensteine. Das jüngste Highlight: die Geburt seiner Enkeltochter Fia. Seine Tochter Fee, die er im vergangenen Sommer zum Traualtar führen konnte, hat kurz vor Weihnachten ihre erste Tochter zur Welt gebracht. „Die Kleine ist unglaublich“, hatte Lobinger in der „Bunten“ geschwärmt. „Jung Opa zu werden, habe ich mir immer gewünscht.“ Weitere Meilensteine: die Einschulung seines Sohns Okkert, die er aber wegen einer Notoperation verpasste, das erste Profi-Tor seines Sohnes Lex-Tyger, der mit dem 1. FC Kaiserslautern in der 2. Fußball-Bundesliga spielt.
Es waren Momente, die ihm das Leben verschönerten, die ihm immer wieder verdeutlichten: „Verlieren ist keine Option“ – so hieß schon das Buch, das er über seinen ersten Kampf gegen den Krebs im Jahr 2018 schrieb. Die Richtung war klar: immer weiter kämpfen. So, wie er es als Profisportler gelernt hatte. Nicht mehr nach Trainings-, dafür nach Therapieplan. 96-stündige Chemoblöcke überstand er mit Mentaltraining wie Atemrhythmus üben. Immer hart zu sich – und zu anderen.
Mit 24 Jahren über sechs Meter
Angefangen hatte alles sehr früh. Mit gerade einmal sieben Jahren hatte Lobinger schon einen Stab in der Hand, sprang 2,01 Meter. 3,99 Meter sollten in den folgenden Jahren hinzukommen, genau bis zur magischen 6-Meter-Marke. Am 24. August 1997, mit 24 Jahren, übersprang er als erster Deutscher die sechs Meter. Beim ASV-Sportfest im alten Müngersdorfer Stadion in Köln war es im dritten Versuch so weit. Knapp zwei Jahre später wiederholte er dies beim Golden-League-Meeting in Oslo – gleich im ersten Versuch. Noch immer sind die sechs Meter die Schallmauer für Stabhochspringer, da hat sich in all den Jahren nichts dran geändert.
Lobinger hat sich immer akribisch vorbereitet. Auf jeden Wettkampf, jede seine vier Olympia-Teilnahmen, die aber nie zu seinen Gunsten verliefen, jede seiner acht Weltmeisterschaften im Freien, auf die Hallen-EM 1998, bei der er Gold gewann, auf die Hallen-WM 2003, bei der er sich zum Weltmeister krönte, auf die EM 2002 in München, wo er vor heimischem Publikum Bronze gewann, auf die EM 2006, wo er Silber holte. Er hat mit der richtigen Härte der Stäbe experimentiert, damit, ob Magnesia, Kleber, Harz oder sonstiges Gebräu aus der Stabhochsprung-Küche für den besten Halt der Hände am Stab sorgt. Mit dem richtigen Anlauf, mit der perfekten Körperhaltung, mit dem Zeitmanagement bei der Drehung über der Latte.
Die Massen liebten den Exzentriker
Als Sportler war er verbissen, aber nicht verhärmt: „Mir waren nie nur die Erfolge wichtig; ich hatte immer viel mehr Spaß am Training als an einem Topmeisterschaftserlebnis. Ich rede auch jetzt noch mehr von der Party nach meiner Weltmeisterschaft als von der WM selbst“, sagte er einst. Kein Wunder, meist hielten die Großereignisse nicht den größten Spaß für ihn bereit. Ob sein Zehnkampf im Jahr 1999 ein großer Spaß war, darf angesichts des kräftezehrenden Sports infrage gestellt werden, doch er endete für ihn erfolgreich. Bei einer respektablen Punktzahl von 7346 Zählern erzielte er im Stabhochsprung 5,76 Meter. Mit dieser Höhe hält er den inoffiziellen Disziplinweltrekord innerhalb eines Zehnkampfes.
Der Name Lobinger steht noch länger in den Geschichtsbüchern. Auch im Einzelwettbewerb der Stabhochspringer hält er sich mit seinen sechs Metern noch immer unter den Top 20 der Welt. Nicht viele sind höher gekommen als der Deutsche, nur drei sind enteilt: Sergej Bubka, Renaud Lavillenie und heute Armand Duplantis, der den Weltrekord inzwischen auf 6,21 Meter gestellt hat. Aus Deutschland kommt schon lange niemand mehr auch nur in die Nähe der sechs Meter.
Und so ist Tim Lobinger bis heute einer der bekanntesten Stabhochspringer Deutschlands, einer, über den die Leute redeten, den die Medien liebten. Eben, weil er sich in seiner Karriere nicht nur Freunde machte. Obwohl er viele Jahre zur Weltspitze gehörte, obwohl sein Deutscher Rekord 15 Jahre Bestand hatte, bis Björn Otto im September 2012 einen Zentimeter höher sprang. 6,01 Meter. Doch Lobinger polarisierte, er wusste sich zu inszenieren, zu vermarkten. Ein Typ, der mit seinen zum Pferdeschwanz gebundenen Locken und seinen häufig futuristisch anmutenden Sonnenbrillen selbst beim Training in der eher dämmrigen Halle auffiel. Er legte sich mit dem Verband an, unterstellte einigen Bundestrainern, ihre Stelle sei „Geldverschwendung“, warf anderen Athleten mangelnde Professionalität vor, konnte auch nach seiner Karriere nicht verstehen, warum auf „strebsame, kompromissbereite, aalglatte Typen“ gesetzt werde, beschimpfte auch mal einen Mannschaftskameraden, der ihn bei einem entscheidenden Wettkampf besiegte und damit einen hohen Jackpot vermasselte.


Das Bild kostete Lobinger 5000 Dollar.
(Foto: imago/PanoramiC)
Unvergessen die Szene von 2003, als er beim Weltfinale in Monaco seinen Hintern entblößte, nachdem er mit 5,91 Meter gesiegt und den Jackpot von 30.000 Dollar eingesackt hatte. „Ich habe in diesem Jahr schon so viel schlucken müssen, da darf man schon mal explodieren“, sagte Lobinger. „Ich bereue es nicht.“ Sauer war er vor allem auf eine Kampfrichterin, die einen Flug zuvor über 5,86 Meter ungültig gegeben hatte, weil er die Latte mit der Hand zurück auf den Aufleger geschoben hatte. Auch so eine Kleinigkeit, für die der extrovertierte Lobinger berühmt-berüchtigt war. 5000 Dollar Strafe kassierte er für seinen nackten Hintern, viel Kritik vom eigenen Verband – aber auch Bekanntheit, dargestellt durch Gekicher hinter der vorgehaltenen Hand, ob der Fotos, die seinen frivolen Jubel für immer festhielten. Es waren übrigens nicht die ersten Nacktbilder Lobingers, schon 1997 hatte er sich für den „Stern“ textilfrei fotografieren lassen.
Vom Leistungssport zum Trainer für Spitzensportler
Es waren auch sein großes Ego, das Streitbare, das Lautsprechertum, das Polarisierende, was Lobinger abseits der Sprunganlagen dieser Welt interessant machte. Mehrfach hatte er mit Stefan Raab zu tun. 2001 sollte er ihm seinen Sport für das Format „Raab in Gefahr“ beibringen, später war er Kandidat bei „Schlag den Star“. Er nahm 2011 bei „Let’s Dance“ teil, bei anderen Spieleshows. Da neigte sich seine Karriere bereits dem Ende entgegen. Zwar hatte er 2008 zum vierten Mal an den Olympischen Spiele teilgenommen, war aber schon in der Qualifikation gescheitert. Seinen Leistungszenit hatte er schon überschritten, an die sechs Meter konnte er längst nicht mehr anknüpfen, auch über 5,80 Meter war er zuletzt 2007 gesprungen. Er sprach zwar weiter vom nächsten großen Angriff, doch die nationale Elite überflügelte ihn nach und nach.
Eine große Aufregung, wie sonst so häufig in seiner Karriere, gab es an deren Ende nicht. Die offizielle Bestätigung war nicht mehr als die Ankündigung seiner Zukunft: Im Juli 2012 gab der damalige Fußball-Regionalligist RB Leipzig bekannt, dass Tim Lobinger der neue Athletiktrainer wird. Es wurde die Karriere nach der Karriere für ihn, auf die er bereits hingearbeitet hatte. Noch als aktiver Leichtathlet betreute er den belorussischen Mittelfeldspieler Alexander Hleb und auch Torhüter Michael Rensing bei deren Trainingsarbeit. Bis 2016 war er in Leipzig aktiv, dann zog es ihn privat nach München, wo er sich als Athletikcoach für Spitzensportler spezialisierte. Unter anderem betreute er Joshua Kimmich, den er in Leipzig kennengelernt hatte und mit dem ihn eine enge Freundschaft verband.
Es sollte eine erfüllende Zukunft werden, die jäh unterbrochen wurde durch die Diagnose Leukämie. „Ich habe mir nie die Frage gestellt ‚Warum ich?‘, denn das ist ziellos, die kann niemand beantworten“, sagte er Ende Oktober 2022, als er als Schirmherr der Stiftung „Forschen hilft“ Förderpreise für die Würzburger Krebsforschung überreichte. Er habe sich schon bei der ersten Diagnose gesagt: „Ich habe jetzt Krebs. Und mit diesem Krebs geht es in die nächste Runde meines Lebens.“ Also kämpfte Lobinger – bis zum Schluss. So hatte er es als kleiner Junge mit dem langen Stabhochsprungstab gelernt, so hatte er es immer von sich selbst verlangt. Doch der Krebs hält sich an keinen noch so akribischen Trainingsplan.








