Der FC Bayern zeigt, wozu er in der Lage ist, wenn er gereizt wird. Im Topspiel der Bundesliga lassen die Münchner Union Berlin keine Chance. Das liegt auch an Thomas Müller. Der agiert zunächst unglücklich, mausert sich dann aber zum Matchwinner.
Bayern München ist zurück an der Spitze der Bundesliga. Für eine Nacht träumte der Rest des Landes von einer großen Krise des Rekordmeisters, dem Absturz auf Platz drei nach 22 Spieltagen. Doch beim 3:0 (3:0) gegen Union Berlin ließen die Münchener ihre Wut an einem der Verfolger aus und keine Zweifel daran, dass sie auch den elften Titel in Folge gewinnen wollen. Gäste-Trainer Urs Fischer hatte das bereits befürchtet. „Jetzt sind sie besonders gefährlich. Jetzt sind sie gereizt. Genau dann sind sie bereit“, hatte der vor dem Spiel gesagt und dann miterleben müssen, was das genau bedeutet.
Die Bayern zerfledderten besonders in der ersten Halbzeit die so hochgelobte Defensive der Berliner, die keine Pause bekam und immer wieder vor unlösbare Rätsel gestellt wurde. Auf Münchener Seite zeigte sich vor allem Jubilar Thomas Müller schwer begeistert. Mit zwei brillanten Vorlagen trieb er sich und seiner Mannschaft in seinem 650. Pflichtspiel für den FC Bayern den Frust nach dem 2:3 bei Borussia Mönchengladbach inklusive der Auswechslung in der 15. Minute aus und rückte die Verhältnisse in der Liga wieder gerade.
Im Abschluss klemmt’s bei Müller
Nur ein Tor wollte ihm trotz bester Gelegenheiten nicht gelingen. Erst verstolperte er früh kläglich, dann, als das Spiel schon dahinplätscherte, klärte Union-Keeper Frederik Rönnow sogar mit dem Kopf. Es war Müller egal. Fast egal. „Ich war in der Bringschuld“, sagte er nach dem Spiel. „Ich hab am Anfang das Ding nicht reingemacht. Phonzy und ich (Anm. d. Red: Alphonso Davies) müssen mal nachsitzen, was die Chancenverwertung angeht.“ Aber es war egal an diesem Abend. Es war den Bayern egal. Sie hatten ein Ausrufezeichen gesetzt.
Die Verhältnisse hatten sich in den letzten Wochen so verkehrt, dass sogar das Fachmagazin „Kicker“ vor dem Spiel von einer Negativbilanz von Union Berlin sprach. Gegen alle anderen Bundesligisten verzeichnet dieser surreale Klub aus dem tiefen Berliner Osten in seinen bisher knapp vier Bundesliga-Spielzeiten mindestens einen Sieg, nur gegen die Bayern nicht. Zwei Abreibungen in der vergangenen Saison und zwei knappe Niederlagen im ersten Jahr standen dabei jedoch auch drei 1:1 gegenüber. Erst Anfang September 2022 hatte Union die Gäste aus München in der Alten Försterei zur Verzweiflung getrieben, 1:1 stand es am Ende. Ein leistungsgerechtes Unentschieden.
Mentalität und Organisation reichen nicht


Eric Maxim Choupo-Moting erzielte das erste Tor der Münchner.
(Foto: IMAGO/Michael Weber)
Davon war an diesem ungemütlichen, von Schneetreiben begleitetem Sonntag wenig zu spüren. Den Eisernen wurden die Grenzen aufgezeigt. Union wollte Mentalität und Organisation gegen die individuelle Qualität der Bayern stellen. Es gelang ihnen nicht. Beim Fehlerspiel Fußball machten sie schlichtweg zu viele. Bayern München war an diesem Sonntag nicht Ajax am vergangenen Donnerstag. Bereits nach sechs Minuten hätte es 1:0 stehen müssen. Aber noch war Müller nicht so weit. Alphonso Davies hatte eine der klaffenden Lücken in der sonst so gut organisierten Union-Abwehr identifiziert und Stürmer Eric Maxim Choupo-Moting in den Strafraum geschickt. Der umkurvte Keeper Frederik Rönnow, ließ sich ein wenig abdrängen und legte zurück auf Müller. Der 33-Jährige aber brachte es aus sechs Metern nicht fertig, den Ball über die Linie zu drücken.
Aber egal. Denn dann stand er ja da. In der 40. Minute. Und er ging ganz kurz in die Knie, packte die Säge aus, die ja nur gezeigt wird, wenn etwas sehr gut gelaufen war. Und das war es in eben jener 40. Minute. Schon in der 31. Minute hatte Joshua Kimmich einen Fehler der Unioner provoziert. Er, also Kimmich, schickte den ebenfalls überragenden Kingsley Coman mit einem flachen Pass, Aissa Laidouni haute drüber und Coman legte wunderbar in die Mitte auf Choupo-Motings Kopf. 1:0, zu einem Zeitpunkt, an dem Union längst in den Seilen hing und nun neun Minuten später, in der 40. Minute, von Thomas Müller in Richtung Boden gedrückt wurde.
Druck, so viel Druck, fällt von ihm ab
Wieder hatte Union im Aufbau Schindluder betrieben und war hoch aufgerückt. Müller bekam einen Ball von Mathijs de Ligt, aus dem Augenwinkel sah er Coman starten, artistisch legte er dem Außen den Ball in den Lauf. Der Franzose umkurvte Rönnow und schob aus spitzem Winkel souverän ein. Müller machte die Säge und stürzte sich dann noch kurz in die Arme von Joshua Kimmich. Druck, so viel Druck, fiel von ihm ab, fiel von den Bayern ab. Das 2:0 besiegelte den Sieg schon früh. Zu passiv und zu ausgelaugt war das Spiel der Unioner, die nicht wussten, was mit ihnen passierte und es nicht fassen konnten, als wieder Müller, als wieder Coman sich durch den Strafraum spielten – bis Müller den Ball derart elegant von der Torauslinie kratzte, dass Geburtstagskind Jamal Musiala nur noch einschieben musste. 3:0. Halbzeit. Noch Minuten nach dem Halbzeitpfiff stand Union-Verteidiger Roussillon mit hängenden Schultern auf dem Platz, orientierte sich, erinnerte sich womöglich, was ihm da gerade widerfahren war.
Müller hingegen jubelte. „Wir waren heute nicht mehr Tabellenführer vor Spielbeginn, dementsprechend musste was passieren. Das war ein kleiner Anfang, wie wir Fußball spielen wollen,“ sagte er nach dem Spiel. „Wir haben ein aktives Spiel gemacht. Wir hatten gute Kombinationen, waren beweglich und aggressiv. Das war ein guter erster Schritt, der wird uns nächste Woche aber nichts bringen.“ Ein guter Schritt fürs Team, aber auch für den Spieler selbst, um den, präziser, um dessen Wert für den FC Bayern zuletzt zahlreiche Debatten entbrannt waren. Gegen Paris St. Germain im ersten von zwei Gigantenduellen kam er spät, gegen Gladbach ging er früh, weil die Münchner die Rote Karte in der Innenverteidigung kompensieren mussten.
„Dass es mir keinen Spaß gemacht hat, ist klar, aber es hätte keinem Spieler Spaß gemacht, dass er da runter muss. Das war jetzt kein Riesenthema, sondern der Trainer hat die Entscheidung getroffen“, bekannte Müller. „Natürlich hat jeder Spieler, ich auch, immer das Gefühl, dass ich der Mannschaft was geben kann, auch in Unterzahl, um so ein Spiel zu gewinnen, aber er hat die Entscheidung getroffen und weiter geht es.“ Müller war, so wurde öffentlich diskutiert, nicht mehr unverhandel-, sondern austauschbar. Wieder mal wurden Abgesänge angestimmt. Aber Müller ist eben Müller, in wichtigen Spielen dann eben noch nicht austausch-, sondern unverzichtbar. Als Anführer, als Mentalitätsriese, als Pressingchef und Mann für mögliche und unmögliche Vorbereitungsaktionen.
„Er ist ein wichtiger Faktor, der das Team führt“
Wie immer, wenn es den Bayern schlecht geht, waren sie am gefährlichsten. Wenn es an ihre Ehre geht, wenn ihnen jemand zu nahekommt, sind sie erbarmungslos. Und es ging ihnen, so die Diagnose der ersten Wochen im Jahr 2023, verdammt schlecht dieser Tage, in denen sich die Unruhen seit Manuel Neuers Verletzung langsam zu einer großen Krise manifestierten. Nur neun Punkte aus sechs Spielen, mit dem BVB und Union plötzlich zwei Widersacher im Titelrennen. Da verlor auch Trainer Julian Nagelsmann jeden Anstand und beschimpfte die Schiedsrichter nach der Pleite in Gladbach. War ja auch blöd gelaufen. Für eine Nacht hatten sie die Tabellenführung hergeschenkt.
Aber dann bissen die Bayern gegen Union. „Dass wir eine super Mannschaft haben, das wussten wir immer. Die müssen es nur auf den Platz bringen“, sagte Bayern-Präsident Herbert Hainer nach dem Spiel: „Die Mannschaft hat schon in Paris gezeigt, zu was sie imstande ist, wenn es drauf ankommt – und das werden sie auch zeigen. Die elfte Meisterschaft in Folge ist ganz klar unser Ziel.“ Und das geht bei Bayern nicht ohne Müller. Wenn es ihm gutgeht, geht es den Bayern gut. „Er ist ein wichtiger Faktor, der das Team führt“, sagte Vorstandsboss Oliver Kahn nach dem Spiel. „Das war eine sehr gute Leistung heute. Ich hätte ihm gegönnt, dass er noch das eine oder andere Tor folgen lässt“, sagte Trainer Julian Nagelsmann und lobte Müller über den grünen Klee. Er muss sich eben auch damit abfinden, dass dieser Fußballer mit seinem unkontrollierbaren Spiel und seiner Macht im Klub zu wichtig ist. Spätestens immer dann, wenn es dringend darum geht zu zeigen, dass der FC Bayern immer der FC Bayern ist. Er, so betonte Nagelsmann quasi als Rechtfertigung, habe immer den Klub im Blick und nicht nur sich selbst. Thomas Müller ist und bleibt der FC Bayern.








