Keiner läuft so wütend wie Isiah Pacheco: Der Running Back der Kansas City Chiefs legt als Rookie einen kometenhaften Aufstieg hin und mutiert zur explosiven Geheimwaffe. Dabei spornen ihn schreckliche Tragödien der Kindheit an.
Anlauf. Kopf runter. Rums. Isiah Pacheco knallt in den ersten fleischgewordenen Kühlschrank. Macht nichts. Mit seiner Schulter räumt er den Verteidiger aus dem Weg. Rums. Auch der zweite Gegner kann den 178 Zentimeter kleinen Running Back der Kansas City Chiefs nicht aufhalten. Ein dritter schmeißt sich von hinten auf ihn, trotzdem gelingen Pacheco noch ein paar weitere Schritte, bevor er samt des tief in den Armen vergrabenen Footballs endgültig zu Boden gerissen wird.
Kleine, flinke und schier unaufhaltsame Stakkato-Schritte mit mächtiger Power dahinter. Das ist Isiah Pacheco. Die neue Geheimwaffe der Chiefs auf dem Weg zur – so hoffen sie in Kansas City – dritten Meisterschaft nach 1970 und 2020. Der Lauf durch die drei Verteidiger ist das spielentscheidende First Down gegen die Denver Broncos im Dezember. Von diesen wilden Szenen liefert der 22-Jährige in seiner ersten Saison in der NFL so einige. Das hat außer ihm niemand erwartet – und heilt eine der wenigen Schwächen im Spiel des Titelanwärters.
In einem Jahr kann viel passieren. Der Rookie wird vor der Spielzeit in der siebten Runde gedraftet, an der 251 Position. Nur elf Picks vor dem allerletztem. Vorher hatte er nicht mal als Zuschauer ein NFL-Spiel besucht. Innerhalb von wenigen Monaten aber erfährt Pacheco einen monumentalen Aufstieg und wird (neben 49ers-Quarterback Brock Purdy) die große Überraschung der Saison. In der besten Offensive der Liga steigt der Running Back zum Spieler mit den mit Abstand meisten gelaufenen Yards (830) und fünf Touchdowns auf.
Explosive Überraschung bei den Chiefs
In seinem Debüt in der regulären Saison erzielt Pacheco gleich einen Touchdown. Bei seiner ersten Partie in den Playoffs läuft er direkt für 95 Yards. Zunächst wird der Rookie in den Spezialteams eingesetzt, aber alsbald verdrängt er Clyde Edwards-Helaire und Jerick McKinnon von der Rolle des ersten Arbeitstiers im Bereich der Running Backs – und entpuppt sich schnell als explosive Überraschung.
Einen wie ihn suchen die Chiefs schon lange und er ist einer der Gründe für den Einzug in den Super Bowl in diesem Jahr. Kansas City hat in Patrick Mahomes den derzeit besten Quarterback der Welt in den eigenen Reihen und kann sich jederzeit darauf verlassen, dass er ein produktives Passspiel generiert. Doch auf Dauer wird das auf den Spielmacher und seine Pässe fokussierte Spiel zu ausrechenbar. Was den Chiefs vor der Saison fehlte, war ein kräftiger und schneller Ballträger, der sich in jeden Gegner schmeißt und durch die Abwehrreihen tanzt. Dem kein Duell zu schade ist. Der in der Lage ist, aus wenigen Zentimetern Platz wichtige Yards und First Downs zu erlaufen. Der auch mal ein Spiel an sich reißt – so geschehen, als sich Mahomes in den Playoffs gegen die Jacksonville Jaguars am Knöchel verletzte.
Was Pacheco als Rookie leistet, ist phänomenal. Der 22-Jährige agiert weitaus erfolgreicher und erwachsener als erwartbar. Seine schon jetzt legendären, schnell getakteten Läufe werden als „angry“, also wütend getauft. Und tatsächlich, niemand läuft so aggressiv, so furchtlos wie Pacheco. Wenn man ihn bei seinen Läufen durch die großmassigen, kühlschrankartigen Verteidiger beobachtet, sieht man einen jungen Mann, der mit Emotionen, mit Wut auf den Boden läuft. Ja, teilweise mit auf die gesamte Welt. Denn Pacheco hat allen Grund, emotional und wütend zu sein. Er weiß, was Verlust bedeutet. Denn es sind gleich mehrere Tragödien, die ihn anspornen, immer hundert Prozent und mehr zu geben.
Schwester erschossen, Bruder erstochen
Mit puerto-ricanischen Wurzeln wächst Pacheco in New Jersey auf. Besonders mit seiner älteren Schwester pflegt Pacheco ein enges Verhältnis. Sie kommt schon in der High School stets zu seinen Spielen, steckt ihm hier und da ein paar Dollarnoten zu. 2017 wird die 24-Jährige in ihrem Apartment erschossen. Ihr Partner wird für die Tat verknackt, ihr kleiner Sohn zieht zu Pachecos Mutter. „Meine Schwester war meine beste Freundin“, sagt der Running Back in tiefer Trauer. Der damals 18-Jährige und seine Mutter können anschließend nachts oft nicht schlafen. Sie schauen dann NFL-Highlights auf Youtube an. Anderthalb Jahre zuvor war sein 29-jähriger Bruder erstochen worden.
Es muss im Innern Pachecos gewütet haben damals. Und immer noch wüten. Der Schmerz dürfte ihn vielleicht nie wieder komplett verlassen. Aber der Rookie hat ein Ventil für seine Emotionen gefunden. Er lässt sie auf dem Spielfeld raus. Sein ehemaliger College-Trainer sagt der „New York Post“, dass vor allem Pachecos Arbeitsethos für seinen kometenhaften Aufstieg verantwortlich ist. „Ich glaube, niemand hätte vorhersagen können, dass er so schnell so erfolgreich würde. Aber ich habe jedem erzählt, der zur Rutgers University kam, um ihn zu sehen: ‚Er ist der härteste Trainingsspieler, den ich je gecoacht habe.'“
Auf Nachfrage von ntv.de erklärt auch Quarterback Mahomes in Phoenix vor dem Super Bowl: „Der läuft nicht nur im Spiel so hart, er trainiert auch so hart, dass wir ihn manchmal zurückhalten müssen: ‚Ey Junge, wir üben hier gerade ohne Schutzausrüstung!‘ Er wird auch am Sonntag das machen, was er am besten kann.“ Anlauf. Kopf runter. Schulter raus. Rums.
Pacheco bedient USA-Mythos
Pachecos Geschichte ist genau eine dieser Geschichten, die man in den USA, einem Land voller Gründungsmythen, liebt. „Inspirational“ sagen sie dort dazu. Allen Widerständen trotzen, alle Hürden überwinden. Gewinnt Pacheco am Sonntag in seiner ersten Saison den Super Bowl, wäre es, als würden die Zuschauer ein kitschiges Ende aus einem Hollywood-Film bestaunen. „Den Zweiflern sei gesagt, dass man immer etwas erreichen kann, wenn man groß träumt, es sich holt, es sich schnappt“, merkt Pacheco selbst im Mythos-Sprech an. „Und das ist etwas, das ich immer im Kopf hatte.“
Als Isiah Pacheo noch mit seinen Eltern in New Jersey wohnt, begeht er jeden Abend dasselbe Ritual. An einem Spiegel sind die Todesanzeigen seiner Geschwister angeheftet. Kurz bevor er schlafen geht, liest er sie und spricht ein Gebet. „Diese Zeit widme ich ihnen“, erzählt er damals. „Ich danke ihnen, dass sie auf mich herabschauen. Ich werde weiterhin Dinge auf positive Weise tun, damit sie stolz auf mich sind.“ Das heißt bei ihm: Anlauf. Kopf runter. Rums.








