Leipzig ärgert sich mit einer Regeländerung herum

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Das Ausgleichstor für RB Leipzig gegen Union Berlin am 20. Spieltag der Fußball-Bundesliga wird wegen Abseits annulliert. Doch ist dem wirklich eine unkontrollierte Aktion des Berliners Aissa Laidouni vorausgegangen, wie der Schiedsrichter urteilt? Oder liegt der Leipziger Trainer mit seiner Bewertung richtig?

Am 20. Spieltag der Fußball-Bundesliga wurde nicht nur mal wieder viel über die Video-Assistenten diskutiert, sondern auch über die Auslegung der Abseitsregel in einem speziellen Teilbereich. Im Spiel zwischen RB Leipzig und dem 1. FC Union Berlin (1:2) annullierte Schiedsrichter Daniel Schlager nach 80 Minuten den vermeintlichen Leipziger Ausgleichstreffer von Yussuf Poulsen zum 2:2 nach einem On-Field-Review, weil er die vorangegangene Abseitsstellung von Timo Werner als strafbar bewertete. Werner hatte den Ball aus einer verunglückten Abwehraktion des Berliners Aissa Laidouni erhalten, für den Referee war diese Aktion kein kontrolliertes Spiel des Balles.

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In der vergangenen Saison hätte dieses Tor noch gezählt. Denn da hob ein absichtliches Spielen des Balles durch einen Verteidiger nach dem Abspiel eines Angreifers – der prägnante englische Regelbegriff „deliberate play“ hat sich auch in Deutschland durchgesetzt – die Abseitsstellung eines Gegners auf. Ob dieser Verteidiger den Ball in einer kontrollierten Art und Weise gespielt hatte, war unerheblich. Es ging nur darum, dass er ihn überhaupt spielen wollte und erreicht hatte, wie geringfügig und mit welchem anschließenden (Miss-)Erfolg auch immer.

Diese Regelauslegung geriet in die Kritik, weil sie in einigen Spielen dazu führte, dass Tore – regeltechnisch zu Recht – zählten, bei denen kaum jemand nachvollziehen konnte, warum das Abseits aufgehoben war. Prominentes Beispiel dafür ist der Siegtreffer von Kylian Mbappé im Nations-League-Finale zwischen Frankreich und Spanien im Oktober 2021. Mbappé war in Strafraumnähe beim Zuspiel eines Mitspielers klar im Abseits, doch weil ein spanischer Verteidiger beim unkontrollierten Rettungsversuch den Ball leicht berührte, ohne dass dieser die Richtung änderte, war die Abseitsstellung aufgehoben, und das anschließende Tor zählte.

Keine unnötige Zirkusnummer

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Zu dieser Saison wurde zwar nicht der Regeltext selbst, aber die Regelauslegung des „deliberate play“ durch das International Football Association Board (IFAB) und die Fifa geändert. „Deliberate“ schließt seitdem auch den Aspekt der Kontrolle des Abwehrspielers über Ball und Körper ein, der vorher keine Rolle gespielt hatte. Genau das ist der Streitpunkt bei der Bewertung der Abwehraktion von Laidouni. Der Berliner lief nach einem langen, hohen Ball der Leipziger in der Mitte der Hälfte von Union zunächst einige Schritte rückwärts und hatte den Ball dabei im Blick. Er spielte ihn schließlich unorthodox mit der Ferse, indem er das rechte Bein nach hinten streckte, als der Ball über ihn hinwegflog.

Doch er traf den Ball nicht richtig, der dadurch zum im Abseits befindlichen Timo Werner gelangte. Wenige Sekunden später traf Poulsen ins Tor, was den Video-Assistenten Tobias Reichel auf den Plan rief. Schiedsrichter Schlager verweilte nicht lange am Monitor, bevor er entschied: Der Treffer wird annulliert. „Mit der Hacke kann man den Ball nicht so kontrolliert spielen“, sagte der Spielleiter später im Interview. Laidouni habe den Ball zwar zunächst im Blick gehabt, „aber am Ende, wo er den Ball mit der Hacke spielt, macht er es in einer unkontrollierten Art, weil er den Ball eben nicht sieht“. Das war für den Unparteiischen „das entscheidende Kriterium“.

Schlager sah in der Art und Weise, wie Laidouni zu Werke ging, auch keine unnötige Zirkusnummer, die schiefging: „Er kann den Ball in dem Moment gar nicht anders spielen als mit der Hacke. Er hat nicht die Zeit gehabt, sich umzudrehen und zu orientieren.“ Damit war für den Referee ein wesentliches „Deliberate play“-Kriterium nicht erfüllt, nämlich jenes, in dem es heißt: „Der Spieler hatte Zeit, seine Körperbewegungen zu koordinieren (das hießt: keine instinktiven Streck-, Sprung- oder sonstigen Bewegungen mit begrenzter Ballberührung/-kontrolle).“

Rose und Gräfe widersprechen

Collinas Erben

Collinas Erben“ – das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. „Collinas Erben“ schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt istseit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.

Das Argument, dass Laidouni den Ball in dieser Situation nicht habe kontrolliert spielen können, ließ der Leipziger Trainer Marco Rose nicht gelten. „Die Jungs können mit der Hacke jonglieren, ohne dass sie den Ball sehen, und zwar 20-Mal, wenn sie wollen“, sagte er. „Mir kann keiner erzählen, dass dieser Spieler den Ball nicht mit der Hacke kontrolliert, bewusst spielen wollte. Er will den Ball kontrolliert mit der Hacke spielen. Punkt. Er ist nicht angeschossen worden oder irgendwas.“

Das heißt: Aus Roses Sicht war die Möglichkeit der Kontrolle gegeben, sie misslang lediglich, weil der Spieler einen technischen Fehler machte. Ähnlich sieht es der frühere FIFA-Schiedsrichter Manuel Gräfe. Er schrieb auf Twitter, Laidouni habe den Ball gesehen, er „hätte sich anders zum Ball positionieren und ihn sauber spielen können, duckt sich aber und entschied sich für diese Variante und scheiterte“. Der Ball sei lange genug unterwegs und frei sichtbar gewesen.

Tatsächlich ist nach der neuen Regelauslegung von IFAB und FIFA ein „deliberate play“ gegeben, wenn ein Spieler die Möglichkeit hätte, den Ball kontrolliert zu spielen – oder ihn anzunehmen respektive wegzuschlagen -, es ihm aber misslingt. Für die Schiedsrichter ist es eine undankbare und teilweise schwierige Aufgabe, das zu beurteilen. Dass Laidouni den Ball unkontrolliert gespielt hat, ist offensichtlich. Aber lag das daran, dass er die Kontrolle einfach verbockt hat, wie Rose und Gräfe meinen? Oder daran, dass er in der Rückwärtsbewegung keine wirkliche Kontrolle über den hoch auf ihn zukommenden und schließlich über ihn fliegenden Ball hatte, wie Schlager urteilt?

Die neue Regelauslegung ist schwieriger für die Referees

Die fußballerische und die regeltechnische Interpretation weichen hier augenscheinlich voneinander ab. Laidouni war in der betreffenden Situation nicht besonders gut positioniert und hatte sich beim Rückwärtslaufen außerdem verschätzt. Dadurch konnte er den hohen Ball schließlich nicht mehr mit dem Kopf erreichen, was erst zum waghalsigen – und am Ende tatsächlich instinktiven – Versuch führte, ihn hinter dem Rücken mit der Ferse zu spielen. Das war situativ wohl in der Tat die einzige Möglichkeit, den Ball zu erreichen. Hier kontrolliert zu agieren, ist allerdings eine Herausforderung, zumal in der Rückwärtsbewegung, die zusätzliche Anforderungen an die Balance stellt.

Hat sich Laidouni durch mäßiges Abwehrverhalten selbst in die Bredouille gebracht? Das ist möglich – aber für den Unparteiischen schwierig zu bewerten. Was er dagegen eindeutig sehen konnte, war, dass ein Spieler nicht mehr mit dem Kopf an einen hohen Ball kam und es dann mit Akrobatik versuchte. Das ging daneben, und es ist nachvollziehbar, dass Daniel Schlagers Urteil lautete: Kein „deliberate play“, weil der Ball nicht in einer kontrollierten Art und Weise gespielt wurde und dabei nicht eindeutig ein technischer Fehler des Spielers vorlag.

Dieselbe Situation wäre nach der alten Regelauslegung erheblich leichter zu bewerten gewesen, und für die Unparteiischen ist es generell schwieriger, wenn sie nun neben der Absicht ein weiteres Kriterium – nämlich das der Kontrolle – in ihr Urteil einbeziehen müssen. Die neue Auslegung hat zudem nur den Graubereich verschoben – mit ihr gibt es zwar keine absurden Tore wie das von Mbappé mehr, aber dafür bringt sie andere Streit- und Grenzfälle hervor. Daniel Schlager kann davon übrigens ein Lied singen: Er hatte bereits am 14. Spieltag in der Partie zwischen dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach (2:1) eine ähnlich knifflige und hitzig diskutierte „deliberate play“-Entscheidung zu treffen.

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