Saison 1999/00: Aktuell rast der BVB von Sieg zu Sieg. Das war vor 23 Jahren komplett anders. Eine Niederlagenserie ließ alle verzweifeln – und verschaffte einem Mann seine Bundesliga-Rückkehr, die niemand mehr für möglich gehalten hatte. Und in Leverkusen holten sie endlich wieder einen Titel – allerdings anders als gedacht!
In diesen Tagen, in denen der BVB von Sieg zu Sieg eilt, wirkt die Krise der Borussia in der Spielzeit 1999/2000 fast unwirklich. Damals schaffte es der BVB 19-mal hintereinander, nicht zu gewinnen und eine ganz miese Saison zu spielen. Mit einem Banner im Westfalenstadion zeigten die Zuschauer auf amüsante Art und Weise ihren Unmut: „SV Rödinghausen. Kreisliga C. Sollen wir uns warmlaufen?“ Als letzte Lösung verpflichtete die Borussia am Ende voller Verzweiflung schließlich den alten Startrainer Udo Lattek. Noch eine Woche vor seiner Einstellung als BVB-Coach hatte Lattek in einer Kolumne geschrieben: „Ob jetzt ein neuer Trainerwechsel etwas hilft? Eigentlich bin ich dagegen. Und es ist auch eine Frage der Alternativen. Wer ist auf dem Markt?“
Und da der Markt tatsächlich leergefegt war, machte es Lattek schließlich selbst. Zusammen mit Matthias Sammer sollte er in den letzten fünf Spielen helfen, die Borussia vor dem Abstieg zu bewahren. Eine Mammutaufgabe, doch wer sonst hätte sie bewältigen können, wenn nicht er? Knapp zehn Jahre zuvor hatte eben dieser Udo Lattek auf die Frage, wer denn der beste Trainer sei, gewohnt bescheiden geantwortet: „Der Lattek, als er noch Trainer war.“ Nun kehrte er also im Jahr 2000 zu einer seiner früheren Stationen im Revier zurück. Borussia Dortmund stand kurz vor dem Ende der Saison direkt am Abgrund, als Präsident Gerd Niebaum die irre Idee hatte, Udo Lattek noch einmal auf den Posten des Cheftrainers zu befördern.


Doch bevor er Dortmund retten konnte, musste man sich erst einmal in Geldsachen einig werden. Stolz erzählte Lattek später, es wäre schlussendlich nicht die kolportierte eine Million gewesen, die Dortmund für diese fünf Spiele zahlte, sondern deren zwei. Und zusätzlich sollte es einen neuen Mercedes 500 („Wir sind uns ja quasi einig über die Finanzen. Aber so einen Wagen hätte ich auch gerne“) gegeben haben, da Lattek gesehen hatte, dass Gerd Niebaum solch ein ebenso schönes wie seltenes Auto bereits fuhr.
„Schöner Film im Fernsehen, Glas Rotwein dabei“
„Du Hund“, habe der Präsident bei dieser Forderung gerufen, aber schließlich doch eingeschlagen. „Den bin ich aber nie gefahren – zu lange Lieferzeit. Also habe ich ihn mir auszahlen lassen“, erinnerte sich Lattek später grinsend. Er hatte mal wieder das Optimale herausgeholt. Frei nach seiner Maxime: „Ich habe das Geld immer genommen. Ich wollte schließlich niemandem wehtun.“
Den Klassenerhalt sicherte sich der BVB am Ende tatsächlich – auch wegen der besonderen Motivations-Fähigkeiten seines Trainers Udo Lattek. Matthias Sammer hat später einmal über die Sitzung vor dem entscheidenden Spiel beim VfB Stuttgart aus dem Nähkästchen geplaudert.
Lattek schwor damals die Mannschaft mit diesen Worten ein: „Ich erzähle euch jetzt mal eine Geschichte. Ihr sitzt zu Hause, ganz gemütlich im Wohnzimmer, habt die Beine hochgelegt und guckt gemeinsam mit eurer Frau einen schönen Film im Fernsehen. Glas Rotwein dabei. Und plötzlich hört ihr es krachen und schwarz vermummte Einbrecher stehen bei euch im Haus. ‚Mensch, was macht ihr da?‘, fragte Udo Lattek den ‚Kokser‘ und brachialen Manndecker Jürgen Kohler. Insgeheim rechnete er natürlich damit, dass der sich erregt, aufspringt und lautstark tönt: ‚Trainer, ganz klar. Die musst du umhauen!‘ Doch Kohler lehnte sich entspannt zurück und sagte: ‚Trainer, in so einer Situation muss man ganz ruhig bleiben!‘ Und Udo Lattek, der alte Fuchs, hielt nur für einen Moment inne und meinte dann: ‚Ganz genau. Ganz ruhig bleibt man. Und so müsst ihr heute spielen. Mit viel Ruhe und Augenmaß, dann haut das schon hin!'“ Und tatsächlich: Der BVB gewann dieses entscheidende Spiel am 32. Spieltag mit 2:1. Einer der Torschützen: der ganz entspannte und ruhige Jürgen Kohler!
Aus dem „Pillenklub“ wird „Vizekusen“
Ein Drama der ganz besonderen Sorte ereignete sich in dieser Saison bei Bayer Leverkusen. Eigentlich war der Klub reif für den Titel, doch am Ende hatte Bayer nach einem hitzigen Duell mit den Bayern wieder einmal nur das Nachsehen. Zuvor waren die Giftpfeile zwischen den beiden Vereinen hin und her geflogen, bis sich kurz vor Saisonschluss Uli Hoeneß und Rainer Calmund auf einen Waffenstillstand einigten.
Bei Leverkusens Co-Trainer Roland Koch gingen die Attacken aus München allerdings eh ins eine Ohr rein und aus dem anderen sofort wieder hinaus: „Wir lesen die Sprüche, aber sie prallen an der Haut ab. Es gibt über die Jahre einfach Abnutzungserscheinungen. Das ist wie mit dem Jäger und dem Hasen. Wenn der Jäger zehnmal nur blind in den Wald schießt, läuft der Hase beim elften Mal auch nicht mehr weg. Der weiß dann: Da passiert sowieso nichts. Wir schauen nur bis zum Rhein, was dahinter passiert, interessiert uns nicht.“
Als Bayer nach dem 25. Spieltag und dem 9:1 beim SSV Ulm 1846 auf dem zweiten Tabellenplatz steht, sagt Reiner Calmund: „Ich unterschreibe sofort einen Vertrag, der uns garantiert, dass wir in den nächsten fünf Jahren immer Zweiter werden.“ Ein Vorschlag, den er am 34. Spieltag möglicherweise noch einmal überdacht hat. An diesem Tag spielte Bayer bei der Spielvereinigung Unterhaching, nur wenige Kilometer von den Bayern entfernt, die zu Hause gegen Werder Bremen antraten. Den Leverkusenern reichte ein Punkt bei dem Verein, über den vor der Saison der eigene Präsident Engelbert Kupka noch so weitsichtig gesagt hatte: „Natürlich sind wir in der kommenden Saison die Underdogs. Aber die können auch beißen – und zwar in die Wadln, weil wir höher nicht kommen.“
Nun konnten sie an diesem letzten Spieltag der Runde Geschichte schreiben. Und es gelang. Am Ende siegte Unterhaching 2:0, Bayern gewann locker-leicht mit 3:0 und war Deutscher Meister. Nach drei zweiten Plätzen innerhalb von vier Jahren wurde der Titel „Vizekusen“ geboren und zum neuen Stigma des ehemaligen „Pillenklubs“.








